Freitag, 11. Dezember 2009

VfB Fans: Offene Briefe, offene Fragen


An der Mercedesstraße haben die Aufräumarbeiten begonnen. Absperrgitter werden zur Seite geschafft, am Mannschaftsbus haben sich Securitymänner mit grell-gelben Westen positioniert. Eine Gruppe Fans trinkt am Grillstand neben dem VIP-Bereich ein letztes Bier. Ein Mitarbeiter kippt nicht ausgetrunkene Getränkeflaschen in den Gully. Die Polizei fährt ab. Es war ein angespannter Mittwochabend, nach all dem, was passiert war. Es ist ruhig in diesen Minuten, in denen der VfB Stuttgart den Einzug ins Achtelfinale der Champions League geschafft hat. Wo am Samstag ein Sturm tobte, bläst nun der Wind das Laub vom Gehweg. Vier Tage war es her, dass hier chaotische Zustände herrschten. Zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen. Seitdem wird hitzig diskutiert, aber nicht immer sachlich. Es waren die Tage der offenen Briefe, der offenen Fragen, der offenen Worte.

Am Dienstagabend trafen sich Fanvertreter mit Abgesandten des VfB, um die Wogen zu glätten. Der Vorstand wandte sich mit einem Schreiben an die Anhänger und bat um ihre Unterstützung. Fangruppierungen verurteilten die Vorfälle, verwahrten sich aber gegen eine pauschale Verurteilung der Szene. "Ein großer Schatten trübte das positive Bild unseres VfB Stuttgart in ganz Deutschland", schreibt der Vorstand im Stadionheft.

Es ist kurz nach 18.30 Uhr. Oliver Schaal steht vor dem Cannstatter Bahnhof. Die S-Bahn spuckt Scharen von Fans aus, es kreisen Bierdosen, von hinten zieht der Geruch von Döner aus dem Bahnhofsgebäude auf die Straße heraus. Oliver Schaal ist ein junger Mann, Ende 20, braune Haare, Kurzhaarschnitt. Er trägt eine schwarze Jacke, eine dunkelblaue Hose. Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht von all den anderen, die gerade vom Bahnhof ins Stadion ziehen.

Commando Cannstatt will kein Öl ins Feuer gießen

Oliver Schaal ist ein Ultra, so etwas wie ein fanatischer Fan, ein Allesfahrer, wie sie sagen. Er ist der Sprecher des Commandos Cannstatt, der größten Ultra-Vereinigung im Umfeld des VfB Stuttgart. Sie mögen die Presse nicht. Zahlreiche Anfragen haben sie bekommen nach den Vorfällen am Samstag. Darüber sprechen wollten sie beim Commando Cannstatt eigentlich nicht. Man wolle kein Öl ins Feuer gießen. Zu viel Schwarz und Weiß, zu wenig Differenzierung. Der Mob aus der Kurve, "pubertierende Jugendliche", wie der Stuttgarter Torhüter Jens Lehmann sagte, Chaoten, Kindergarten und Krawallmacher, liest man in Foren.

Viel ist auf die Fans und speziell die Ultraszene mit dem Commando Cannstatt eingeprasselt. Ultras sind keine Heiligen. Dort gibt es Krawallmacher, dort gibt es Chaoten, die in einem Stadion nichts verloren haben. Natürlich. Aber nicht nur. Den Ultra gibt es nicht, so wie es den Fan nicht gibt. Das wollen sie klar stellen. "Es wurde alles in einen Topf geworfen und übertrieben dargestellt", sagt Schaal auf dem Weg zur Mercedes-Benz-Arena und betont, dass man lange trotz schwacher Leistungen hinter dem Team gestanden habe: "Es hat sich spontan Enttäuschung entladen aus Angst um den Verein. Man wollte wachrütteln. Aber nur einige wenige haben sich danebenbenommen. Der überwiegende Teil war völlig friedlich." Am Dienstagabend hat sich das Commando Cannstatt mit einer Erklärung von Gewaltakten distanziert und die Exzesse in der Mercedesstraße verurteilt.

Der Samstag hat Spuren hinterlassen. Auch bei der Mannschaft. Es ist 22.35 Uhr an diesem Mittwochabend. 3:1, der Schlusspfiff. Sieg, Jubel, Trubel - Heiterkeit? Die Mannschaft versammelt sich in der Nähe des Mittelkreises. Die Spieler heben die Hände und bedanken sich bei den Anhängern. Als die Profis in die Kabine wollen, ertönen Pfiffe aus der Cannstatter Kurve, der Heimat der organisierten Fans. In die Kurve sollen sie kommen. Bis zur Eckfahne laufen sie. Zwischen Mannschaft und Fans klafft in diesem Moment ein großer schwarzer Graben, der Untergrund der herausgerissenen Laufbahn. Sie wollen nicht zum Alltag übergehen. Beide Seiten nicht. Es gibt weiter Bedarf, darüber zu reden.

Die Ultras sind ein Segen und ein Fluch

"Wir hinterfragen uns ständig, sind selbstkritisch", sagt Oliver Schaal. "Manches würden wir sicher nicht mehr machen." Wie die Busblockade. Gibt es Fronten? Oliver Schaal will nicht von Fronten sprechen. Fronten, das klingt nach Krieg, nach Gewalt. Es geht um Fußball, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Er nennt es einen Graben, den es vielleicht gebe, weniger zwischen den Fans als zwischen der Spitze des Vereins und ihnen, den Ultras.

Die Ultras sind ein Segen. Und ein Fluch. Je nach Sichtweise. Sie sind nicht die beliebtesten Anhänger. Es sind Fans, die für ihren Verein leben und wichtig für die Atmosphäre im Stadion sind. Im Erfolgsfall ist es ein Selbstläufer, ein Prozess, der keiner Moderation bedarf. Bei anhaltendem Misserfolg fangen die Probleme an. Weil der Kitt fehlt, um die Fugen zu versiegeln und unter der Oberfläche schwelende Unzufriedenheit auch dort zu belassen. Der Frust geht tiefer als ein 1:1 gegen Bochum, als ein 16. Platz in der Tabelle. Ein 3:1 gegen Urziceni, zwei, drei Siege lindern Symptome, aber nicht die Ursache.

Nicht alles sei schlecht beim VfB, aber manches liege im Argen, sagen sie. Es sind laut Schaal spezifische Stuttgarter Entwicklungen wie die Fankarte, die auf wenig Gegenliebe stößt, wie die Probleme mit dem Ticketing und die Länge von Fahnenstangen. Aber vor allem gibt es auch Sorgen über die grundsätzliche Entwicklung des Fußballs. Es geht um Kommerz, um eine Entfremdung vom Kern des Spiels.

Zum UI-Cup-Finale gegen Ramenskoje am 27. Juli 2008 waren 12.000 Besucher gekommen, es ging um den Europacup. Zum Spiel gegen den FC Arsenal im Juli 2008 kamen 50.000, es ging um nichts. Die Ultras fürchten Zustände wie in den USA, wo Clubs nur noch als Eventagenturen betrieben werden, wie Schaal sagt. Jubelperser, die im Misserfolg still sein sollen. "Diejenigen, die das meiste Geld verdienen und ihre Bedeutung hervorheben, die, die ein Ereignis inszenieren, sagen im Misserfolg, dass es doch nur ein Spiel sei", sagt Schaal. Wie das zu lösen sei? Oliver Schaal überlegt, er zuckt mit den Achseln. "Schwierig."

Quelle: stuttgarter-zeitung.de

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